Warum schwören manche Unternehmen bei der Modernisierung ihrer HR-IT-Landschaft auf Standardlösungen, warum entscheiden sich andere für die Entwicklung eines komplett neuen Systems in eigener Regie? Ein Gespräch mit dem hkp/// group HR-IT-Experten Holger Jungk und Peter Dodell von Siemens Energy. Das Unternehmen setzt seit dem Spin-off aus dem Siemens-Konzern auf das intern entwickelte COIN-System als IT-Infrastruktur für den Comp&Ben-Bereich. 

Herr Dodell, der Spin-off aus der Siemens AG ist noch relativ frisch. Was waren Ihre Anforderungen an ein HR-IT-System mit Blick auf eine Gewährleistung des reibungslosen Betriebs nach Ausgründung und Börsengang von Siemens Energy? 

Peter Dodell: Nicht nur für den Vergütungsbereich, sondern für alle HR-Themen musste gesichert sein, dass die Systeme und Prozesse zur Strategie und Kultur des neuen Unternehmens passen und weltweit einheitlich implementiert sind und auch genutzt werden. Das war die Vorgabe für uns.

Das klingt nach einem sehr umfangreichen Projekt…

Peter Dodell: … und kommt durchaus einer Operation am offenen Herzen gleich. Denn wenn aus einem Weltkonzern wie Siemens mit über 360.000 Mitarbeitern mehrere zehntausend herausgezogen und in ein neues weltweit agierendes, börsennotiertes Gebilde überführt werden, ist das ein immenser Kraftakt - erst recht mit der kurzen Zeitspanne, die bis zum Start gegeben war. Zudem transformieren wir ausgehend von einer in vielen Ländern sehr heterogenen Prozess- und IT-Landschaft, welche über Jahrzehnte historisch gewachsen war und durch die lokal gelebte Vergütungsentscheidungen und -Prozesse entstanden sind.

Sie haben sich trotz der angespannten zeitlichen wie budgetären Situation gegen den Einsatz eines Standard-IT-Systems für das HR-Management entschieden und sind in die Eigenentwicklung gegangen – warum?

Peter Dodell: Die Entwicklung eines eigenen HR-IT-Systems ist für uns kein Selbstzweck und auch wir brauchten natürlich gute Gründe, nicht den Standard einer Cloud-Lösung zu nutzen. Neben einer deutlich verbesserten Usability und User Experience war für uns entscheidend, dass wir mit einer eigens entwickelten Lösung in wichtigen Prozessen starke Wettbewerbsvorteile gesehen haben, gerade in der operationalen Ausübung der festgelegten Vergütungsstrategie. Auch können wir unsere IT-Aufwendungen, aber auch Personalkosten, deutlich besser managen.

Herr Jungk, teilen Sie die Beweggründe der Siemens Energy Experten?

Holger Jungk: Ich kann diese gut nachvollziehen. Auch andere Unternehmen prüfen vor der Einführung einer Standardlösung die möglichen Alternativen im Sinne eines Make-or-Buy. Vor dem Hintergrund des Zeit- und Ergebnisdrucks war es aber fraglos eine mutige Entscheidung. Andererseits: Gerade die Komplexität eines multi-national agierenden Unternehmens in einem stark von externen Regularien beeinflussten Themenkomplex wie Vergütung ist nur schwer durch eine Standardlösung abzubilden. Jedes Unternehmen hat da individuelle Umsetzungsideen und -ansprüche.
Peter Dodell: Genau dieser Sachverhalt war ausschlaggebend für uns: Wir sahen so viele unterschiedliche und komplexe Anforderungen – inhaltlich wie regional –, dass selbst deren angestrebte optimierte Umsetzung mit einer Standardanwendung allein nicht umsetzbar schien. Für uns war es wichtig, eine holistische Lösung auch für diejenigen Funktionsbausteine zu nutzen, die sich so im Standard von HR-IT-Cloud-Lösungen nicht findet. Nutzer von Cloud-Lösungen haben ja zwei Alternativen: entweder zu warten, bis die benötigten Funktionen in einem der zukünftigen Releases zur Verfügung gestellt werden oder manuelle Work-Arounds zu entwickeln.

Welche Funktionalitäten haben damals den Ausschlag gegeben?

Peter Dodell: Der Hauptvorteil ist die hohe Usability, um Mitarbeitenden einen effizienten Self Service bei Vergütungsthemen zu bieten, was mehr Freiraum für wertschöpfende Tätigkeiten schafft. Aber auch die Verknüpfung und transparente Bereitstellung der relevanten Vergütungsinformationen, um eine fundierte Entscheidung der Manager herbeizuführen. Beispielsweise ist das Thema der Market Intelligence in allen Bausteinen unseres COIN Systems integriert und steht Managern und HR-Mitarbeitenden für alle relevanten Prozesse zur Verfügung. Zudem werden Vergütungsprozesse in Echtzeit in unserer Analytics-Umgebung abgebildet. So lassen sich jederzeit effizient und transparent Personalkosten darstellen oder Prozess-Monitoring und Controlling betreiben.

Wie gestaltet sich der Aministrationsaufwand?

Peter Dodell: Die Effizienz bei der Administration von Prozessen durch BPO, Business Process Outsourcing, sowie durch eigene Mitarbeitende ist nicht zu vernachlässigen. Hier haben wir in unserer Administrationsumgebung besonders auf flexible und dynamische Prozesse und deren Ausführung und Monitoring geachtet, sodass wir nun die globalen Prozesse mit einer deutlich kleineren Mannschaft in mehr als 80 Ländern gleichzeitig ausführen können. 

Herr Jungk, wie häufig fällen Unternehmen eine Entscheidung für eine Eigenentwicklung - ist Siemens Energy ein Einzelfall?

Holger Jungk: Ein Einzelfall sicherlich nicht, aber Fakt ist, dass sich über die letzten zehn Jahre unsere Kunden mehrheitlich für Cloud-basierte HR-IT-Lösungen entschieden haben. Der Funktionsumfang dieser Standardlösungen ist dabei stetig gewachsen, sodass meist mehr Funktionalitäten abgebildet werden als benötigt. Dennoch: Abweichungen vom Standard bleiben nur schwer realisierbar.

Der zunehmende Funktionalitätenumfang kann die Limitierung in der Differenzierung nicht aufwiegen?

Holger Jungk: Genau, Unternehmen können sich letztlich nicht über den Prozess differenzieren. Hinzu kommt, dass ein Standardprozess gegebenenfalls nicht die Passung hat, die Anbieter in Pitch-Situationen versprechen, sodass Unternehmen mögliche Alternativszenarien prüfen. Gerade die Spezialthemen und so manche lokale Gesetzgebung verhindern oft den Einsatz des Standards und fordern dann zusätzlich Eigenentwicklungen oder manuelle Prozesse mit Hilfe von zusätzlichen Ressourcen bei externen Service Dienstleistern.
Peter Dodell: Gerade das deutsche Tarifsystem ist bekannt dafür, die großen HR-IT Cloud-Lösungen vor noch unlösbare Probleme zu stellen. Wir haben in Deutschland aktuell knapp 25.000 Mitarbeiter. Gerade mit Blick auf dieses Thema ist unsere Eigenentwicklung sehr flexibel und kostengünstig anpassbar und auch die deutschen Besonderheiten lassen sich gut in die globale Lösung integrieren. Aus Erfahrung sind Sonderwünsche bei HR-IT-Standardlösungen sehr schwer umsetzbar, solange nicht eine Mehrzahl der Kunden den gleichen Wunsch hegt. Und Anpassungen durch Drittfirmen sind sehr kostspielig.

Wie lässt sich denn das Alternativ-Szenario beschreiben?

Holger Jungk: Ein aktuell von mehreren Kunden geprüfter Ansatz ist die Nutzung des Basisstammdatensystems eines großen Cloud-Anbieters, um dieses dann über Standardschnittstellen mit Nischenlösungen, zum Beispiel für Recruiting oder eben Eigenentwicklungen, zu verbinden. 

Ist dies der Weg, den Siemens Energy ebenfalls verfolgt?

Peter Dodell: Für uns war von Anfang an wichtig, COIN mit unserer globalen HR-IT-Lösung zu integrieren. Schließlich empfangen wir regelmäßig HR-Stammdaten, mit denen wir in unseren Prozessen arbeiten, liefern aber auch viele Daten für Reporting-Zwecke zurück an andere HR-Applikationen. Gerade für Themen, bei denen wir der Datenerzeuger sind – beispielsweise Vergütung, Positionsbewertung und Aktienvergütung – ist dies relevant.
Holger Jungk: Abseits von fachlichen Fragenstellungen ist die Integrationsfähigkeit ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Insellösungen, die nicht über moderne Schnittstellen verbunden sind, wären ein Rückschritt. Diese lassen sich schwer administrieren, sind teuer im Unterhalt und führen zu Dateninkonsistenzen.

Gibt es eine Regel, unter welchen Voraussetzungen der Rückgriff auf eine Standard-IT-Lösung die bessere Wahl ist?

Holger Jungk: Es kommt auf den HR-IT-Reifegrad an. Für ein Unternehmen mit einer fragmentierten IT-Architektur und noch zahlreichen MS Excel-Workarounds ist ein HR-IT-Cloud-Standard ein echter Beitrag zur Harmonisierung von Prozessen, zur Beseitigung von Ineffizienzen und in der Folge zur stärkeren Positionierung der HR-Funktion. Ob man den gesamten Funktionalitätenumfang eines Anbieters lizensieren will, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Beispiele wie COIN belegen das.

Das klingt doch überzeugend?

Peter Dodell: Das ist es auch, aber Strategie, Kultur und auch IT sind etwas sehr Spezifisches. IT-Lösungen werden an ihrer Wertschöpfung bemessen. Diese entsteht durch die effiziente Bedienung beispielsweise durch einfachen Self-Service des Anwenders. Ist diese nicht gegeben, braucht es wieder zusätzlich Geld für Call-Center, Trainings oder man muss unzufriedene Kunden in Kauf nehmen. Gerade bei den großen externen HR-IT-Lösungen, aber auch allgemein in vielen anderen Bereichen in Support-Funktionen der Unternehmen sehe ich noch starken Nachholbedarf bei der Usability. Letztlich muss eine Applikation vom Endnutzer gerne benutzt werden, damit Sie nicht aufgrund von Unzufriedenheit obsolet wird. Das überwältigend positive interne Feedback zu COIN zeigt, dass wir mit unserer Eigenentwicklung auf dem richtigen Weg sind. 

Welche Rolle spielen die Kosten in einer Entscheidung pro oder contra Standard-IT-Lösung?

Holger Jungk: Kosten sind immer ein Thema, erst recht, wenn wie im Fall von Siemens Energy von vornherein die Vorgabe besteht, nach Herauslösung aus der Siemens-Familie mit weniger besser zu agieren. 

Aber ist eine Eigenentwicklung nicht immer teurer als eine Standard-IT-Lösung?

Holger Jungk: Im Vergleich der reinen Kosten wird eine Eigenentwicklung immer teurer sein, bei einer Gesamtkostenbetrachtung jedoch nicht zwingend. Der Blick sollte nicht eindimensional auf One-Time-Investments oder IT Maintainence begrenzt sein. Aus Erfahrung gibt es bei ineffizient ausgeführten Prozessen hohe Nachfolgekosten, u.a. resultierend aus der dann notwendigen intensiveren Betreuung von Mitarbeitenden, die aufgrund unzureichender Usability ihre Aufgaben nicht sinnvoll durchführen können und Ressourcen im Call-Center bzw. die eines Helpdesks in Anspruch nehmen müssen.

Es bleibt also immer eine konkrete, individuelle Kosten-Nutzen-Abwägung?

Peter Dodell: So ist es. Mit COIN verfügen wir über Funktionalitäten, die es im Standard auf Jahre nicht geben wird. Wir führen alle Reward-Prozesse aus einer Hand und können über die so gewonnene Transparenz und Steuerungsfähigkeit Einsparungen erzielen. 

Können Sie das mit konkreten Beispielen belegen?

Peter Dodell: Beispielsweise konnten wir unseren erstmalig global durchgeführten Gehaltspflegeprozess gleichzeitig in über 70 Ländern und mit einer Rückfragequote von nur einem bis zwei Prozent ohne zusätzliche Unterstützung und Kosten durchführen. Das sind wichtige Argumente nicht nur auf der Kostenseite! Auch können unsere Manager nun für ihre 70.000 Mitarbeitenden durch effiziente Self Services und die neu geschaffene Transparenz deutlich schneller bessere Entscheidungen gerade bei der individuellen Vergütungsdifferenzierung treffen. Zusätzlich bieten wir mit Advanced Analytics und Scenario Modeling zentrale Steuerungselemente, um die Unternehmensstrategie in der Vergütungsstrategie abbilden und somit deutlich größere Skaleneffekte erzeugen zu können.

Angesichts dieser positiven Effekte stellt sich die Frage, ob wir im breiten Markt zukünftig wieder mehr Eigenentwicklungen sehen werden?

Holger Jungk: Ich kann mir vorstellen, dass es in Zukunft mehr Unternehmen geben wird, die sich über HR-IT-Lösungen differenzieren. Solange als Nebenbedingung auch die Passung zum HR-Stammdatensystem gewährleistet bleibt, ist dies auch unkritisch und kann je nach Situation die Effizienz bei gleichbleibenden Kosten deutlich steigern. Die Stärke der Standard-Cloud-Lösung ist ihre globale Plattform. Auch gibt es spannende Entwicklungen im Bereich Low- bzw.  No-Code, wo der Fachseite ohne größere Programmierkenntnisse ermöglicht wird, Prozesse zu entwickeln bzw. anzupassen. Zudem sehen wir bei vielen anderen global agierenden Unternehmen aktuell den Trend, dass IT- und Daten-Themen wieder deutlich enger am Fachbereich angedockt sind und die Implementierung Hand-in-Hand mit der Business Strategie durchgeführt wird. Diese Vorgehensweise beflügelt oft Anstrengungen hinsichtlich Harmonisierung und der Transformation von Prozessen des Fachbereichs.
Peter Dodell: Genau deswegen haben wir bei Siemens Energy mein Team mit der Zuständigkeit für Applikationen und Prozesse direkt in der Compensation & Benefits Abteilung angesiedelt. Ohne diese engen Berichtswege und Abstimmungsmöglichkeiten mit der Fach- und Strategieseite wäre eine digitale Transformation und globale Harmonisierung der Vergütungsprozesse nicht möglich gewesen.

Welche Zukunftspläne gibt es für COIN?

Peter Dodell: Da wir selber Herr über die Implementierungs-Roadmap sind, haben wir eine sehr hohe Relevanz beim Business und den Endanwendern. Für 2022 planen wir zum Beispiel basierend auf dem Feedback unserer Endnutzer neue Features für die bereits ausgerollten Prozesse, aber arbeiten auch schon an einem globalen Prozess zur Positionsbewertung. Dieser wird dann mit wenigen Inputparametern der Führungskraft automatisiert Vorschläge und Peer-Vergleiche ausgeben, aber gleichzeitig über dedizierte Workflows die Abbildung von Unternehmensregularien sicherstellen. Hierzu erweitern wir unseren speziell für HR implementierten HR-Partner-Bereich, in welchem bereits der digitale Dialog zwischen Mitarbeiter und HR Ansprechpartner stattfindet.

Herr Dodell, Herr Jungk, vielen Dank für das Gespräch.

Autor Holger Jungk

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