Funktionsbewertung ist ein wichtiges Steuerungsinstrument in Unternehmen, das vor dem Hintergrund zunehmender Agilität und Internationalität des Geschäfts gerade in Grenzfällen der Objektivitätswahrung dient. Zur Bedeutung einer zentralen Governance in der Bewertung von Positionen und Funktionen in Konzernen wie auch im großen internationalen Mittelstand sprach hkp.com mit den hkp/// group Grading-Experten Carsten Schlichting und David Voggeser.

Herr Schlichting, Herr Voggeser, in der Praxis sind in Geschäftsbereichen und Ländern immer wieder unterschiedliche Bewertungen für ähnliche bzw. vergleichbare Positionen zu sehen. Wie erklären Sie sich diese Inkonsistenzen?

David Voggeser: Eine einfache und zugespitzte Erklärung dafür lautet: Kommt es zu unterschiedlichen Bewertungen, verfügen Unternehmen über keine oder eine schwach ausgeprägte Governance. Die Bewertungssystematik mag im Einzelfall perfekt sein, aber wenn sie an verschiedenen Stellen im Unternehmen mit anderen Maßstäben genutzt wird, ist ihr Nutzen dahin. Funktionsbewertung hat die Aufgabe, Objektivität und Vergleichbarkeit herzustellen und zu wahren. 
Carsten Schlichting: … oder um es auf die methodische Ebene zu bringen: Die in der Funktionsbewertung genutzten Verfahren sind keine geeichten Waagen, die überall auf der Welt identische Ergebnisse ausspucken. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um Beurteilungsinstrumente in den Händen von Menschen. Selbst die analytischen Verfahren in der Funktionsbewertung sind kein Messen im klassischen Sinn, sondern ein kriteriengestütztes Vergleichen, das von Menschen vorgenommen wird. 

Welche Ursachen für Bewertungsfehler sehen Sie konkret?

Carsten Schlichting: Alle in der Funktionsbewertung genutzten Verfahren enthalten Beschreibungen der Bewertungskriterien und -stufen. Und wie jeder weiß, sind Worte in verschiedene Richtungen interpretierbar, positiv wie negativ. Hinzu kommen Übersetzungen in viele Sprachen - und wie bei einem Buch ist jede Übersetzung bereits eine Interpretation des ursprünglichen Textes.
David Voggeser: Auch werden Bewertungen häufig von verschiedenen Personen vorgenommen, die unterschiedlich gut ausgebildet und erfahren sind, aber auch unterschiedlichen Führungsebenen angehören.

Eine gute Ausbildung und eine starkes Standing sind also das A & O für konsistente Bewertungen?

David Voggeser: Dies sind zumindest die Grundlagen, ohne die niemand ein Bewertungsverfahren übernehmen sollte. Ausbildung heißt natürlich nicht, eine kurze, zweistündige Information en passant zu durchlaufen, sondern einen entsprechend umfangreicheren Wissens- und vor allem Erfahrungstransfer. Denn Wissen ist nur die eine Seite der Medaille, fast wichtiger sind praktische Erfahrungen.
Carsten Schlichting: Elementar ist natürlich auch der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, mit denen Bewertungsvorschläge diskutiert werden können. 

Wäre dann nicht ein unternehmensübergreifendes Grading-Netzwerk die Lösung? 

Carsten Schlichting: Man muss dabei unterscheiden: Bei Stellen unterhalb des Managements - in Deutschland würde man dazu Tarif sagen - ist die Perspektive meist landes- und branchenbezogen. Da braucht es kaum internationalen Austausch. Die Experten an den Standorten tauschen sich vor Ort über den Wert von Richtpositionen aus, die dann wiederum als Anker für weitere Bewertungen dienen. 

Da wäre ein Netzwerk nicht erforderlich. Aber wie viele Bewertungsexperten sollte es denn für diese Aufgabe geben?

David Voggeser: Bei der Anzahl ist natürlich die Unternehmensgröße maßgeblich. Je größer ein Unternehmen ist, desto weniger Personen - relativ gesehen - müssen sich mit diesem Thema auskennen. Hintergrund ist, dass es zumindest pro Region einen Experten geben sollte und/oder nach Mitarbeitergruppen. Generell lässt sich sagen: lieber weniger Personen, die häufiger Bewertungen durchführen, als viele, die das nur ein  bis zwei Mal pro Jahr tun.  

Im außertariflichen Bereich sieht die Situation vermutlich anders aus?

Carsten Schlichting: Nein, denn die Methodik ist auch im AT-Bereich grundsätzlich dieselbe. Der Unterschied besteht darin, dass die Vergleichsperspektive zunehmend breiter wird.

Können Sie da konkreter werden?

Carsten Schlichting: Stellen Sie sich Kreise vor, deren Radius nach außen immer größer wird: Zunächst müssen die Bewertungen an einem Standort konsistent sein, dann auch in den verschiedenen Geschäftsbereichen in einem Land und schließlich auch über Ländergrenzen hinweg im gesamten Unternehmen. Außerdem werden für Management-Funktionen noch Quervergleiche in Job-Familien erwartet. Und schließlich müssen die Bewertungen auch zum externen Markt passen, mit dem die Vergütungen verglichen werden.

Das klingt wie die Quadratur des Kreises. Wäre es nicht effektiver, das ganze Thema Funktionsbewertung weltweit einem einzigen externen Berater anzuvertrauen?

Carsten Schlichting: Leider nicht, obwohl sich so immerhin sicherstellen ließe, dass dieselbe Methode zur Anwendung kommt. Aber die eigene langjährige Erfahrung in Verantwortung für dieses Thema in einem Konzern zeigt, dass auch durch dasselbe Beratungsunternehmen in unterschiedlichen Ländern vorgenommene Bewertungen zu deutlichen Abweichungen führen. Das liegt vor allem daran, dass sich die einzelnen Einheiten unabhängiger darstellen, als sie es tatsächlich sind. Der Einfluss der Zentrale oder der weltweit agierenden Geschäftsbereiche wird oft verschwiegen oder abgewertet.

Wo liegen die Gründe dafür?

Carsten Schlichting: Nun, man darf nicht vergessen, dass Funktionsbewertungen letztlich über Geld entscheiden. Damit sind immer auch starke Interessen im Spiel. Je höher die Stellen angesiedelt sind, desto mächtiger sind diese Stakeholder auch, die ja schließlich den Berater beauftragen. Dagegen wird sich ein lokaler Consultant nur wehren können, wenn er die Struktur des Unternehmens sehr gut kennt und die Unterstützung der zuständigen Zentralfunktion hat.

Wie lautet Ihre Empfehlung, um eine objektive Funktionsbewertung unternehmensübergreifend sicherzustellen?

David Voggeser: Die Governance für die Funktionsbewertung auf den obersten ein bis drei Führungsebenen – je nach Größe des Unternehmens – sowie der ersten Ebene in den Auslandsgesellschaften sollte im Corporate Center angesiedelt sein. Damit sind die Grenzen nach oben in allen Einheiten weltweit gesetzt. In den Ländern und Geschäftsbereichen sollte es zudem Experten und Expertinnen geben, die sich regelmäßig mit dem zentralen Center of Excellence austauschen, das damit als Know-how-Träger und -Vermittler wirkt. 
Carsten Schlichting: Aus Transparenzgründen sollten die weltweit durchgeführten Bewertungen auch in einer zentralen Datenbank abgelegt sein, auf die der Kreis der relevanten Verantwortlichen direkten Zugriff hat. So werden – absichtliche  oder versehentliche – Verstöße gegen Bewertungsprinzipien nicht erst dann sichtbar, wenn die Widersprüche an irgendeiner Stelle offensichtlich werden. 

Und dann… Ende gut, alles gut?

David Voggeser: Fast…  Wir erleben häufig, dass die Gründe für eine Bewertung nicht ausreichend dokumentiert werden. Richtlinien sind wie eingangs erwähnt interpretierbar, daher sollte zumindest in Zweifelsfällen festhalten werden, wie Beschreibungen verstanden und in der konkreten Bewertung umgesetzt wurden. 

Das ist sicherlich aufwändig …

David Voggeser: …und wird genau deswegen zu wenig umgesetzt. Aber im Endeffekt bleibt so spezifisches Wissen in den Köpfen der handelnden Personen. Und es verschwindet, wenn diese ihre Stelle oder gar das Unternehmen verlassen.

Wenn Menschen auf viele Arten ein potenzieller Unsicherheitsfaktor im Prozess der Funktionsbewertung sind, ist dann nicht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz sinnvoll?

David Voggeser: Die Erfahrungen mit unserem automatisierten Grading Tool, dem hkp/// group Grading Robot, haben gezeigt, dass Technologie recht gut zur Ersteinschätzung taugt, aber in der Feindifferenzierung noch immer menschliche Expertise benötigt wird.
Carsten Schlichting: Und da Funktionsbewertung immer dann besonders spannend wird, wenn es um Grenzfälle zwischen Managementebenen geht, wird bis auf weiteres die Einschätzung der Menschen als Führungskräfte  gefordert sein – gern in Ergänzung zur Technologie.

Herr Schlichting, Herr Voggeser, vielen Dank für das Gespräch.  

* Photo by Nick Fewings on Unsplash
Autor Carsten Schlichting

Sie möchten mehr zum Thema wissen?

Vereinbaren Sie einen (Telefon-) Termin mit Carsten Schlichting